Scotland Yard stößt bei den Ermittlungen zum Litwinenko-Mord in Moskau auf Widerstände. Ein Zeuge sitzt unerreichbar im Gefängnis, ein anderer ist im Krankenhaus - und die Russen wollen ihn dort allein befragen. Außerdem lehnt es Russland ab, Verdächtige auszuliefern: Man werde ihnen selbst den Prozess machen.
Moskau/London - Es klingt sehr entschlossen: Die Beamten von Scotland Yard würden so lange in Moskau bleiben, bis der auf die russische Hauptstadt bezogene Teil der Untersuchung abgeschlossen sei, verlautete heute aus der britischen Botschaft. Und Innenminister John Reid verkündete: "Wir werden der Spur folgen, wo immer sie hinführt."
Die britischen Ermittler, die gestern Abend in Moskau eingetroffen waren, um dort endlich Licht ins Dunkel der Affäre um den Gifttod des russischen Ex-Spions Alexander Litwinenko zu bringen, erhalten aus ihrer Heimat politische Rückendeckung. Offen ist allerdings, ob die russische Seite sich so kooperativ zeigen wird, wie die Briten es von ihr erwarten.
Am Mittag zog der Moskauer Generalstaatsanwalt zunächst eine Verbindung zwischen der Vergiftung und Russland in Zweifel. Die eingesetzte Substanz könne seiner Ansicht nach nicht aus Russland stammen, sagte Juri Tschaika. Litwinenko war in London mit radioaktivem Polonium 210 vergiftet worden.
Dennoch kündigte Tschaika an, er werde die britischen Beamten bei ihrer Arbeit unterstützen. "Wir werden alles tun, um unseren britischen Kollegen zu helfen", sagte er nach einem Treffen mit den Beamten von Scotland Yard. Diese Hilfe äußerte sich erst einmal darin, dass russische Polizisten ihre Kollegen bei jedem Schritt begleiten. Abgesehen davon taten sich den Spezialisten von Scotland Yard jedoch schon am ersten Tag größere Hindernisse auf.
So ist zum Beispiel unklar, ob die Ermittler ihren Hauptzeugen Andrej Lugowoi zu Gesicht bekommen. Der nämlich meldete sich erst einmal krank. Lugowoi, wie Litwinenko ein ehemaliger FSB-Agent, sei in eine Klinik eingeliefert worden, berichtete die russische Zeitung "Kommersant" unter Berufung auf dessen Anwalt. Die Ärzte würden an ihm und seiner Familie weitere Tests auf radioaktive Strahlung vornehmen.
Lugowoi, der heute als erfolgreicher Unternehmer gilt, ist für die Briten eine Schlüsselfigur in der Giftaffäre. Er hatte sich in den zwei Wochen vor der Erkrankung Litwinenkos mehrfach mit diesem getroffen - zuletzt in Begleitung seiner Landsleute Dimitri Kowtun und Wjatscheslaw Sokolenko am 1. November, jenem Tag, an dem Litwinenko die ersten Symptome seiner Vergiftung mit Polonium-210 zeigte. In zwei Hotels, in denen Lugowoi in London abgestiegen war, und im Flugzeug, mit dem er von Moskau in die britische Hauptstadt gereist war, waren später Spuren von Polonium-210 festgestellt worden.
Lugowoi und seine Begleiter haben eine Verwicklung in den Fall mehrfach bestritten und versichert, mit den Behörden zusammenarbeiten zu wollen. Nun sei es jedoch ungewiss, so "Kommersant", ob Lugowoi für eine Befragung zur Verfügung stehe.
Gefängnis verweigert Zeugenbefragung
Auch ein anderer wichtiger Informant, der die Ermittler auf eine heiße Spur bringen könnte, ist derzeit außer Reichweite. Russische Strafanstalten weigerten sich heute, einem Verhör des inhaftierten Ex-Spions Michail Trepaschkin zuzustimmen. Trepaschkin hatte in einem Brief behauptet, Russland habe eine spezielle Agentengruppe gebildet, um Litwinenko und andere Regierungskritiker zu töten. Er ist wegen Geheimnisverrats im Gefängnis.
Ein Sprecher der Strafanstaltsbehörde erklärte gegenüber einer russischen Nachrichtenagentur, Russland werde niemanden, der wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen inhaftiert ist, ein Treffen mit ausländischen Behördenvertretern erlauben. Vertraute Litwinenkos hatten die britischen Ermittler zuletzt aufgefordert, Trepaschkin zu befragen, da er substanzielle Informationen habe.
Hindernisse bei möglicher Auslieferung
Doch selbst wenn die britischen Ermittler einen oder mehrere mutmaßlichen Täter ausfindig machen, dass ihm in Großbritannien der Prozess gemacht wird, erscheint derzeit unwahrscheinlich. Generalstaatsanwalt Juri Tschaika sagte am Mittag, jeder russische Bürger, der in den Verdacht gerate, an der Vergiftung Litwinenkos beteiligt gewesen zu sein, werde in Russland vor Gericht gestellt. Ein Auslieferungsabkommen zwischen beiden Staaten besteht nicht.
So wartet auch Moskau bisher auf Auslieferungen aus Großbritannien vergeblich. Der Kreml fordert schon seit langem die Auslieferung einer ganzen Reihe russischer Emigranten, die dort politisches Asyl genießen - darunter der Milliardär Boris Beresowski, der als Erzfeind Wladimir Putins gilt, und der tschetschenische Separatistenführer Ahmed Sakajew. Beide waren enge Vertraute Litwinenkos.
Großbritannien hatte die Auslieferung Beresowskis, dem die russische Führung Korruption und Geldwäsche vorwirft, im Sommer 2003 abgelehnt. Hochrangige Moskauer Politiker hatten zuletzt den Verdacht geäußert, Beresowski könnte die Vergiftung Litwinenkos veranlasst haben. Er habe seinen Freund geopfert, um dem russischen Präsidenten zu schaden, so die absurde Theorie.
Spezialisten aus Großbritannien überprüften heute die britische Botschaft in Moskau auf eine erhöhte Strahlenbelastung. Dabei handele es sich um eine Vorsichtsmaßnahme, sagte ein Botschaftsvertreter der Agentur Interfax. Auch die russischen Geschäftsleute und ehemaligen Geheimdienstler, mit denen Litwinenko in London vor seinem Tod Kontakt hatte, waren zuvor in der Botschaft gewesen.
Wegen des vergifteten Ex-Agenten hat sich heute überraschend auch der italienische Außenminister Massimo D'Alema zu einem Kurzbesuch in Moskau angekündigt. D'Alema will italienischen Zeitungen zufolge Präsident Wladimir Putin um eine "volle Zusammenarbeit" im Fall Litwinenko bitten. Es gebe noch viele offene Fragen. Der italienische Geheimdienstexperte Mario Scaramella hatte Litwinenko am 1. November in einer Londoner Sushi-Bar getroffen. Kurz darauf erkrankte Litwinenko. Auch bei Scaramella ist eine überhöhte Dosis Polonium 210 festgestellt worden.
phw/AFP/AP/reuters/dpa
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