Regionale Identität als Forschungsproblem

©Klaus Graf


Liebe Freundinnen und Freunde!

Raum ist, soviel dürfte nach dem bisherigen Verlauf unseres Symposiums schon klargeworden sein, in der kleinsten disziplinären Hütte, während Zeit, zumal auf Tagungen, ein überaus knappes Gut ist. Ich habe mich daher flugs meinem Thema zuzuwenden, der regionalen Identität als Forschungsproblem. Die freundliche Aufnahme des Begriffs "Region" in den Tagungstitel - ein herzliches Dankeschön dafür den Verantwortlichen - signalisiert bereits, daß Raum und Region irgendwie zusammenhängen. Diese gewagte Arbeitshypothese wird sich - davon bin ich fest überzeugt - im weiteren Verlauf meines Referats bestätigen lassen.

Der eine oder die andere wird sich vielleicht an dem Begriff "Identität" stören, und er befindet sich dabei in der besten Gesellschaft, nämlich unter anderem in meiner eigenen. Ich selbst leide an diesem Begriff außerordentlich, und ich kann nur hoffen, daß es mir gelingt, den selbstquälerischen Prozeß, ihn doch zu verwenden, für Euch nicht zu belastend zu gestalten. Verbirgt sich nicht hinter der modischen Frage nach der Identität die alte Frage nach dem "Wesen", womöglich als nicht weiter hinterfragbare Konstante aufgefaßt? Wo aber vom "Wesen" die Rede ist - oder adäquater formuliert: geraunt wird - ist nicht nur allergrößte Vorsicht, sondern - forschungsstrategisch gesprochen - sogar eher der Rückwärtsgang angebracht. Ich verwende den Identitätsbegriff also wie ein populistisches Lockmittel, als griffiges Etikett, und es bereitet mir eine nicht geringe Genugtuung, ihm jegliche Identitätstheorie, ohne die er ja an sich nicht verwendbar scheint, zu verweigern. Am liebsten würde ich nicht einmal den Philosophen Hermann Lübbe zitieren wollen, der folgende bündige, vielleicht eine Spur zu wenig brillante Definition versucht hat: "Identität ist das, was als - zutreffende - Antwort auf die Frage erteilt wird, wer wir sind".

Wer sind wir? Nicht selten antworten wir unter Hinweis auf einen Orts- oder Regionalbegriff, als seien wir gefragt worden: Wo seid Ihr? Mag unsere geistige Heimat auch in Brackwede legen, dem heimlichen Nabel der deutschen Mediävistik, so befinden wir uns doch derzeit raumzeitlich in Chemnitz, habe ich mir sagen lassen. Aber die wenigsten von uns sind ja waschechte Chemnitzer, weshalb ich es vielleicht wagen darf, den genius loci dieser südwestsächsischen Metropole, eine Zeitlang auch als Karl-Marx-Stadt bekannt, durch ein bißchen saloppes name-dropping in diesen Raum zu bannen. Wer nach regionaler Identität in der Gegenwart fragt, formuliert das durch folkloristische Inszenierungen angeheizte populäre Bekenntnis zur eigenen Heimat - ich könnte auch sagen: zu Wurzel und Scholle - im Grunde genommen nur etwas wissenschaftlich akzeptabler. Übrigens möchte ich mich keineswegs dazu verleiten lassen, die pikante Frage anzuschneiden, ob die ostalgischen Strömungen des neckisch Neufünfland genannten Territoriums - der eine oder die andere wird vielleicht wissen, welchen historischen Staat ich meine - nicht auch am besten unter dem Label "regionale Identität" zu verhandeln sind. Schnell zurück nach Chemnitz, dem "Tor zum Erzgebirge"! Es gibt ja ein ausgeprägtes erzgebirglerisches Sonderbewußtsein, das mit dem Anspruch einhergeht: "Wir sind die besseren Sachsen!".

Heimat Erzgebirge! Ich spreche das Ausrufezeichen bewußt mit. Hier gilt es trotz aller nüchternen Wissenschaftlichkeit Gefühle zuzulassen. Denn im Erzgebirge finden wir ein geradezu paradigmatisch kollektive Identität stiftendes Symbol, das dieses landschaftlich reichlich unspektakuläre Mittelgebirge auf innige Weise mit dem deutschen Nationalcharakter und seinem verhängnisvollen Hang zum Gemüt verbindet: ich meine natürlich den Gipfel erzgebirgischer Schnitzkunst, die uns allen vertraute, von leuchtenden Kinderaugen bestaunte kerzenbesteckt-rotierende Weihnachtspyramide. Ein Hinweis auf dieses Kulturgut ist um so mehr geboten, als wir an diesem Sonntag ganz real den ersten Advent schreiben!

Nun aber ist es höchste Zeit für eine erste Zwischenbilanz: Heimat oder regionale Identität, ganz wie es gefällt, ist keine festumrissene Größe im Sinne einer heutigen Gebietskörperschaft, die mittels eines Satellitenortungssystems metergenau vermessen werden kann. Sie ist vielmehr eine gesellschaftliche Konstruktion, das sich im Lauf der Zeit verändernde Resultat von Kommunikation und Verständigung; eine Konstruktion, die im Dialog von außen und innen, von Fremdsicht und Selbstsicht entsteht. Geschäftstüchtige Ureinwohner fördern natürlich das grobgeschnitzte Klischee vom traut und heimelig dahinschnitzenden Erzgebirgler. Bei der Konstruktion eine entscheidende Rolle spielen also: interessierte Personen oder Gruppen, die man als Träger bezeichnen könnte, Symbole und Traditionen, seien es echte oder erfundene (wirkungsvoller sind allemal die erfundenen). Und es ist wichtig festzuhalten, daß es konkurrierende Konstruktionen gibt, denn auch hier in der Region dürfte, das möchte ich jetzt einfach einmal kühn behaupten, eine Spur von intelligentem Leben anzutreffen sein, also Leute, denen die Reduzierung der Region auf Kommerz-Kitsch und die sogenannten Schnitzerdörfer gewaltig auf den Geist geht. Nicht von ungefähr habe ich auch den deutschen Nationalcharakter erwähnt, denn zwischen regionalem und nationalem Diskurs besteht eine aufschlußreiche Wechselwirkung, was sich bereits für das 15. Jahrhundert zeigen ließe.

Es fällt mir zugegebenermaßen sehr schwer, das faszinierende Terrain touristischer Heimaterfindungen der Gegenwart zu verlassen. Unerwähnt bleiben muß daher das "Sächsische Burgen- und Heideland", dem ich, obwohl ich es nicht kenne, aus dem Handgelenk das Epitheton "verträumt" zugestehen möchte, und das einen Teil des Landkreises "Chemnitzer Land" mit Sitz im gewiß reizenden Glauchau einnimmt. Wenn ich mir zu dieser Landkreisbezeichnung "Chemnitzer Land" eine Parenthese erlauben darf: "Ich fühle mich emotional als Chemnitzer Ländler" - so etwas sagt sich einfach leichter als das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts korrekte, aber wohl kaum sehr verbreitete Bekenntnis zur eigenen regionalen Identität: "Gestatten, Untertan der Amtshauptmannschaft Kämz". Wir sehen also: die kollektive Identität einer Region und die personale Identität eines Individuums, die sich etwa bei der Vorstellung artikuliert, sind eng miteinander verknüpft. Zugleich lassen sich bei Vorstellungsrunden - wir haben ja eine solche gut in Erinnerung - aufschlußreiche Beobachtungen zur Pragmatik von Regionalbegriffen machen: während die Präsentation eigener landsmannschaftlicher Identität über die Artikulation eines norddeutsch-naßforschen "Ich bin Niedersachse" keine Verwunderung auslöst, mag die in meinem eigenen Fall durchaus korrekte Angabe "Ich bin Niederschwabe" Befremden auslösen. Denn die im Spätmittelalter bestehende Landvogtei Niederschwaben kennt heute nur ein ungewöhnlich gut unterrichteter Historiker oder eine Historikerin. Während die Selbstbezeichnung als Schwabe auf eine außerordentlich alte gentile Zuordnung zurückgreift, hat beispielsweise das etwas sehr selbstbewußte "Ich bin Lipper" des Angehörigen eines ehemaligen ostwestfälischen Kleinstaats einen leicht anderen Akzent. Hier spielt wohl auch politische Nostalgie eine Rolle, nämlich das wehmütige Bedauern, daß selbst so zählebige Ländchen wie das vergleichsweise winzige Herrschaftsgebiet der Edelherren zur Lippe - offenbar hatten die interessierten Mächte viele Jahrhunderte lang keine Lupe dabei - auch einmal ihre aktuelle politische Bedeutung verlieren und zur identitätsstiftenden Heimat gleichsam spiritualisiert werden können. Die hier am Exempel Nordrhein-Westfalen versus Lippe aufscheinende Spannung zwischen Territorium und Region wird ein Leitmotiv meiner Ausführungen sein.

Bevor ich nun aber wirklich medias in res gehe und erwartungsgemäß etwas über das Mittelalter sagen will, erwarte ich spätestens an dieser Stelle den obligaten Bielefelder Zwischenruf: wo ist denn Deine Fragestellung? Pariert werden kann derlei erfahrungsgemäß am besten durch einen Schachzug, der im Benennen eines Substantivs auf -ierung besteht, und so zögere ich denn nicht, "Territorialisierung" in die Runde zu rufen. Eine Erläuterung dieses Stichworts, das den bösen Zweifel am Vorliegen eines Erkentnisinteresses von hinreichend sozialgeschichtlicher Dignität wohl wirksam zu bannen in der Lage sein sollte, wird gleich erfolgen.

Doch erst einmal möchte ich Euch einladen, mir in einen historischen Raum von allergrößter Bedeutung zu folgen, nämlich in das Pleissenland des hohen Mittelalters! Heute würde nur der historisch wirklich tiefgreifend verbildete Chemnitzer mit diesem Stichwort etwas anfangen können, und auch im World-Wide-Web des Internets ist es mit den gängigen Suchmaschinen kaum zu erhaschen. Nicht einmal eine Autobahnraststätte "Pleissenland" gibt es. Anders zu Beginn des 14. Jahrhunderts: im Chemnitzer Urkundenbuch finde ich zum Jahr 1324 ein Dokument, in dem "daz lant zu+o Plysne" erscheint. Wir schlagen artig im "Handbuch der historischen Stätten" unter "Pleißenland" nach und werden magistral von Walter Schlesinger im ersten Satz belehrt: "Das Pleißenland ... war eine Schöpfung Friedrich Barbarossas". Die nach dem Fluß Pleiße benannte "terra Plisnensis" war also ein staufisches Reichsland, und die Forschung zögert nicht, die "verwaltungsmäßige Erfassung und Durchdringung des Landes" (Dieter Rübsamen), den Staufern zuzuschreiben. Diese haben, erfahren wir, die aus dem Altenburger Reichsgut und den von Heinrich dem Löwen eingetauschten Besitzungen entstandene "terra imperii" ausgebaut, indem sie kolonisatorisch tätig wurden - für womöglich anwesende Geographen oder Geographinnen sei kennerhaft das Stichwort "Waldhufendörfer" eingestreut. Die Staufer haben auch einen Verwaltungsapparat installiert, insbesondere einen Landrichter, dem weitere Ministeriale dienstbereit zur Seite standen. Nicht fehlen darf in diesem Bild die "Sicherung strategischer Plätze", von konventionellen Landeshistorikern gern auch etwas bieder als "Burgenbau" bezeichnet. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts gelangte die ganze Chose - Pardon: das Pleissenland - mit den Reichsstädten Altenburg, Chemnitz und Zwickau, an die bekanntermaßen unbeschreiblich tüchtigen Wettiner. Damit war das Ende des eigenständigen Reichsterritoriums Pleissenlandes gekommen, auch der Begriff verschwindet anscheinend rasch, soweit ich das aufgrund meiner höchst mangelhaften Kenntnis der einschlägigen Regionalliteratur und einem raschen Blick ins Register des Chemnitzer Urkundenbuchs sagen kann.

Ob ich mir in diesem Zusammenhang wohl noch eine weitere bekenntnishafte Abschweifung erlauben darf? Das Pleissenland im allgemeinen und Chemnitz im besonderen interessiert mich offengestanden eigentlich nur mäßig, aber ich wollte nicht schon wieder etwas über das Land Schwaben und Südwestdeutschland machen - dazu werde ich im Kontext des am 1. Januar in Freiburg startenden Sonderforschungsbereichs "Identitäten und Alteritäten" (was immer das sein mag) genügend Gelegenheit haben. Wenn Schwaben das Eigene ist, dann ist das Pleissenland das Fremde, das ganz Andere, dem man in einem aufregenden wissenschaftlichen Selbsterfahrungsprozeß begegnet, um daraufhin das Eigene um so mehr zu schätzen. Ich erhebe also unumwunden einen exemplarischen Anspruch, und was würde sich für einen Versuch über das Thema "Raum" besser eignen als der nicht durch irgendwelche Kompetenz verstellte unbefangener Blick auf eine der geschichtsträchtigen Keimzellen des heutigen Freistaates Sachsen? Klammer zu!

Wir haben aber im Pleissenland bereits vor dem Übergang an die Wettiner alle Ingredienzien der mittelalterlichen deutschen Erfolgs-Story zusammen, für die sich der Begriff "Territorialisierungsprozess", nicht nur von Germanistinnen und Germanisten mitunter liebevoll zu "Terriproz" verkürzt, nun einmal eingebürgert hat. Da ist eine kraftvolle Herrscherpersönlichkeit, wie sie im Schulbuche steht, dynamisch und zupackend: Friedrich der Rotbart (um es auf gut deutsch zu sagen) und eine Dynastie, der spätestens seit der Zeit um 1500 die Sympathien patriotisch gesinnter Humanisten und Gelehrter zuflogen: die Staufer (nebenbei bemerkt: sie waren unser, also Schwaben). Nicht zu vergessen die pleissenländischen Dienstleute und - gleichsam als als Komparserie - das von ihnen verwaltete einfache deutsche Bauernvolk, das rodend und siedelnd durch das Land zog. Schöpfer-Kaiser und machtvolle Dynastie und ergebene Dienstleute machen nun das, wozu sie nach Ansicht der Forschung in besonderem Maße berufen sind: sie durchdringen herrschaftlich den Raum, sind Raumbildner, ja geradezu Raumplaner in großem Stil. Und so wird denn noch in einem ganz neuen Aufsatz über die Entstehung der Altenburger Burggrafschaft unter Bezugnahme auf Karl Bosl hervorgehoben, das Pleissenland sei der nordöstliche "Keil staufischer Staatsplanung" gewesen. Raum und Herrschaft - dieses Grundthema unvergeßlicher deutscher Geopolitik, am Pleissenland wird es einmal mehr einsichtig, sollte man meinen. Karl Bosls Werk über die Reichsministerialität, ist übrigens in der NS-Zeit entstanden.

Noch die neueste historische Literatur wird nicht müde, die ordnungsstiftende und raumbeherrschende Kraft der Landesherren andächtig nachzuzeichnen. Die Landesherren sind die begnadeten Macher, gleichsam die genialen Kraftkerle, die machtbewußt und zielstrebig den Raum unter ihre Kontrolle bringen. Sie erhalten dafür von allen braven deutschen Historikern gleichsam ein Fleißkärtchen nach dem anderen. Das ist nach wie vor mediävistischer "mainstream", aber ein bißchen öde, wie ich finde.

Das Pleissenland ist deutscher Mutterboden, da stören die paar Sorben nur, und sie kommen daher auch in Schlesingers Handbuchartikel gar nicht vor. Selber schuld, wenn diese faulen Slawen das Land nur schwach besiedeln! Was besagt es schon, wenn Chemnitz, benannt nach dem gleichnamigen Fluß, ein slawischer Name ist? Vergessen wir sogleich wieder diese irritierende Feststellung, denn Quellen zur sorbischen Siedlung in diesem Raum gibt es offenbar ohnehin nicht, und damit ist man einmal mehr aus dem Schneider!

Raum und Herrschaft als Obsession der deutschen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert wäre gewiß ein packendes Thema. Man muß nur ein wenig auf das verwendete Vokabular und die häufigsten Bilder achten, dann bemerkt man rasch die militaristischen Untertöne des einschlägigen wissenschaftlichen Diskurses. Besonders das Frühmittelalter ist ein Tummelplatz solcher Männerphantasien. Der Raum ist häufig ein Aufmarschgebiet für den Ausgriff in einen anderen Raum, mitunter auch ein Glacis; er wird mit strategischen Stützpunkten und Brückenköpfen überzogen, und auf den Straßenverbindungen zirkulieren keine Waren, sondern vor allem Soldaten. Wie barocke Generäle über Landkarten gebeugt, agieren die mittelalterlichen Herrscher außerordentlich planvoll und raumbewußt. Ob sich solche Projektionen überhaupt mit der zeitgenössischen Raumwahrnehmung in Einklang bringen lassen, interessiert bezeichnenderweise nicht weiter. Alles was Herrscher und Adelige im Raum tun, gehorcht dem intentionalen, strategischen Handeln, für das der zu gewinnende Krieg das Modell abgibt. Um nur ein Beispiel aus dem Hochmittelalter für die von mir kritisierte geopolitische Konzeption zu nennen: Obwohl die moderne Burgenforschung die konkret militärische raumbeherrschende Funktion der einzelnen Adelsburg inzwischen zu den Akten gelegt hat, halten die meisten landesgeschichtlichen Publikationen nach wie vor an diesem alten Aberglauben fest.

Was haben der spätmittelalterliche Landesfürst und der deutsche Heimwerker der Gegenwart gemeinsam? Beide modernisieren ständig! Doch statt den Blick einmal mehr auf diese angebliche Lieblingsbeschäftigung der Landesherren zu richten, schlage ich vor, vom Pfad der wissenschaftlichen Tugend, nämlich dem allgemein verbreiteten Wiederkäuertum, abzuweichen und all das in den Vordergrund zu rücken, was sich gegen das Streckbett des gängigen Terriproz-Konzeptes sperrt, was Widerstand leistet und überhaupt nicht daran denkt, in die sonnige Zukunft des modernen Staates zu weisen. Also das Altmodische und Unzeitgemäße, das, was rückständig scheint oder sogar retardiert. Nicht zu vergessen die Betriebsunfälle der Territorialisierungsgeschichte und das, was Barbara Tuchman einmal die "Torheit der Regierenden" genannt hat. Weshalb nicht auch einmal die Gescheiterten, die Hohlköpfe und Versager auf den mittelalterlichen Fürstenthronen würdigen? Ich meine, wir sollten die traditionelle Dynastengeschichte nicht einfach mit leichter Hand verabschieden und uns stattdessen so fesselnden kulturgeschichtlichen Themen wie beispielsweise Gabe, Trauer, Raum oder Gier zuwenden. Nein, wir sollten sie von innen aushöhlen, bis sie Stück um Stück verschwindet wie die berühmte Katze in "Alice im Wunderland", von der schließlich nur noch ein Grinsen übrigbleibt. Mit anderen Worten: wir brauchen dringend eine Kultur der historischen Schadenfreude, mit der wir den bierernsten Darstellungen der Territorialgeschichte Paroli bieten können. Etwa nach dem Motto: Da hat eine Adelsfamilie mit viel List und Tücke ein Territorium zusammengerafft, es klug arrondiert und dann: ausgestorben! Da kann man nur sagen: Dumm gelaufen!

Nicht so recht ins glattgestrichene Bild passen auch die genossenschaftlich-bündischen Elemente. Allenfalls an den Rändern des Reiches, in Friesland und bei den Eidgenossen, die mit bis heute real existierenden Landgemeinden dem Exotismus Zucker geben, wollte man ihnen einen Platz zu gestehen. Dies war zumindest der Stand der Forschung, bevor Peter Blickles Kommunalismus-Konzept zur Debatte stand. In diesem Zusammenhang mag der Hinweis auf die in der Zwischenzeit recht gut erforschten landständischen Vertretungen in den Territorien genügen.

Bei der Frage nach der regionalen Identität interessiert also nicht so sehr der dynastisch beherrschte und geplante Raum, sondern der genossenschaftlich gestaltete, Handlungsfeld und Lebensgrundlage aller seiner Bewohner. Nach regionaler Identität zu fragen heißt nach genossenschaftlicher Zugehörigkeit und politischer oder rechtlicher Teilhabe zu fragen. Regionale Zugehörigkeit ist eine Relation, die sich immer auf einen Raum bezieht, der bereits von den Zeitgenossen als solcher wahrgenommen und begrifflich erfaßt wurde, beispielsweise das 1324 bezeugte Land Pleissen. Die westsächsische Gewerbelandschaft des Mittelalters wäre als modernes Forschungskonstrukt in diesem Sinn keine Region. Bei quellenmäßig besser bezeugten größeren Einheiten, etwa den früh- und hochmittelalterlichen Stammesländern wie Sachsen oder Schwaben, ist darüberhinaus auch ein spezifischer Patriotismus greifbar, der sich sprachlich im "Wir" der Gruppenmitglieder artikuliert: "Wir Sachsen". Hier von einem Wir-Gefühl zu sprechen, ist zwar üblich, doch zieht der Begriff "Gefühl" - ebenso wie der verwandte Bewußtseinsbegriff - einen Drachenschwanz theoretischer Probleme nach sich. Auf einen entsprechenden Schaukampf verzichte ich aber angesichts der fortgeschrittenen Zeit um so lieber, als ich fest davon überzeugt bin, daß ein sprachanalytisches Vorgehen, das auf zeitspezifische Ausdrucksformen und Gebrauchsweisen achtet, allemal mehr Gewinn zu stiften vermag als der Verweis auf mysteriöse mentale Entitäten wie "Heimatgefühl" oder "regionale Mentalität".

Eine Region ist nie ausschließlich das Resultat herrscherlicher Setzung, sie wird immer auch im Diskurs konstituiert. An diesem Diskurs sind die Bewohner ebenso beteiligt wie die Nachbarn und andere Betrachter von außen. Daß dieser Diskurs durchaus kein herrschaftsfreier ist und daß es bereits im Mittelalter vielfältige Bemühungen gab, regionale Zugehörigkeiten für territorialpolitische Zwecke zu instrumentalisieren, ist mir durchaus bewußt.

Genossenschaft, das klingt nach langweiliger Rechtsgeschichte und nach obsoleter noch dazu. In der Tat hat sich die verfassungsgeschichtliche Forschung in Deutschland nach 1933 rasch ein neues Paradigma der germanischen Adelsherrschaft geschaffen, das dem auf Befehl und Gehorsam abhebenden Führergedanken doch erheblich mehr Rechung trug als die liberal infizierten rechtshistorischen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts, etwa die Markgenossenschafts- und Gemeinfreienlehre. Nach 1945 konnte die Elite der deutschen Geschichtswissenschaft - der bereits zitierte Walter Schlesinger gehörte dazu - dankbar an die zuvor gelegten Grundlagen anknüpfen und ein ebenso eindrucksvolles wie quellenfernes neues Lehrgebäude errichten. Erst in den 1970er Jahren gelang es, dieses in weiten Teilen zum Einsturz zu bringen. Paradoxerweise findet sich ein durchaus wirksames Gegengift gegen die herrschende Meinung, die im Fürstenstaat die einzig wirkliche Möglichkeit politischen Seins sieht, in der Schrift eines Autors, dem man seine Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie durchaus mit Recht zum Vorwurf gemacht hat. Ich meine Otto Brunners "Land und Herrschaft". Für ihn war das spätmittelalterliche Land sogar ohne Landesherr denkbar, denn für ihn stand im Mittelpunkt des aus der Quellensprache entwickelten Landesbegriffs die Rechts- und Gerichtsgenossenschaft der Landleute. Bereits für das Frühmittelalter leuchtet eine rechtliche Sicht der Bindung an eine bestimmte Region unmittelbar ein: die patria, der Herkunftsraum des Individuums, also ein Gau, eine Grafschaft oder ein gentil akzentuiertes "Land", ist nichts anderes als sein angestammter Rechtsbezirk, außerhalb dessen er "elend" (aus dem Land) ist. Das Recht garantierte also das schützende "Netz von Sicherheiten" in der Heimat. In gleicher Weise läßt sich noch im Spätmittelalter die personale Identität des Einzelnen als Subjekt von Berechtigungen und Verpflichtungen über die Zugehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft oder Rechtsgenosseschaft bestimmen. Dazu nur ein Stichwort: das Sächsische Recht, das ja in Nieder- und Mitteldeutschland von allergrößter Bedeutung war, ist eben kein territoriales Landrecht!

Ich möchte nun etwas ausgesprochen Unkluges tun, nämlich das gemeinsam in mühevoller Kleinarbeit erarbeitete Abstraktionsniveau wieder aufgeben und gegen eine banale Konkretion eintauschen, indem ich ein letztes Mal auf das Pleissenland zurückkomme - ein vielleicht etwas ungünstiger Tausch! Wir wissen zwar zu wenig über die konkrete Gerichtspraxis des Pleissenlandes, doch bin ich der Ansicht, daß wir diese aus dem Gau "Plisni" hervorgegangene Kleinregion, in den Quellen als "provincia" oder "land" bezeichnet, zutreffender als den Lebensraum einer Gerichtsgenossenschaft in der Tradition der frühmittelalterlichen Grafschaften - der Rechtshistoriker Jürgen Weitzel spricht von einer "Dinggenossenschaft" - anzusehen haben denn als eine auf dem Reißbrett der staufischen Staatsplanung erfundene Größe. Wir sollten nicht den Finanz- und Steuerstaat des 16. Jahrhunderts in das Hochmittelalter zurückprojizieren, sondern durchaus mit einem längeren Fortbestehen früh- und hochmittelalterlicher Verfassungsmodelle rechnen, als dies die einschlägige Sekundärliteratur wahrhaben will.

Und weil die "Andacht zum Unbedeutenden" seit Jakob Grimm zum Wesen deutscher Wissenschaft gehört, zögere ich nicht, noch eine kleine illustrierende Lesefrucht aus dem Chemnitzer Urkundenbuch hier anzureihen. 1331 erfahren wir, daß eine Reihe von Dörfern rund um Chemnitz der Stadt behilflich sein mußte, außerhalb der Stadtmauer eine Umzäunung zu errichten, in deren Schutz die Dorfbewohner sich im Falle eines "Landgeflüchts" dann auch zurückziehen durften. Für diese Befestigungspflicht waren sie vom städtischen Marktzoll befreit. Es wird hier also ein Raum oder eine Kleinregion abgegrenzt - ob er genau mit der städtischen Bannmeile identisch ist, weiß ich nicht - , der Stadt und Umland wirtschafts- und wehrrechtlich miteinander in Beziehung setzt. Möglicherweise hat man sich darunter sogar die in einer Kaiserurkunde aus dem Jahr 1216 bezeugte "provincia Kempnitz" vorzustellen. Diese vielfach andernorts belegte Rechtsbeziehung - Zollfreiheit gegen Mauerbaupflicht - reicht aber als verfassungsgeschichtliches Modell weit in vorterritoriale Zeit zurück. Sie gehört zur frühmittelalterlichen Grafschaftsverfassung, denn die Grafschaft war, darauf hat Michael Mitterauer mit Nachdruck aufmerksam gemacht, nicht nur eine Gerichts- oder Dinggenossenschaft, sondern auch ein Wehrbezirk und ein Wirtschaftsraum. Die Freien, die späteren Landleute, waren im Grafschaftsvorort zollfrei, mußten aber an dessen Befestigung mitwirken. Ihr Grafschaftsrecht, verstanden als persönliche Rechtsstellung, zeigt sie als Berechtigte - sie verfügen über das Privileg der Zollfreiheit im Marktort -, zugleich aber auch als zum Gemeinschaftswerk Verpflichtete. Wir finden also im wettinischen Territorium des 14. Jahrhunderts bei Chemnitz ein älteres Modell lebendig, von dem sich nicht sagen läßt, ob es aufgrund längerer regionaler Tradition oder durch landesherrliche Übertragung hierher gelangt ist. Im einen Fall würde man von einem Fortleben eines Elements der genossenschaftlichen Grafschaftsverfassung im territorialen Rahmen sprechen, im anderen von einer Innovation durch die Territorialverwaltung in Anlehnung an ein altes Muster. Nachdem die Quellen, wenn ich recht sehe, keine Entscheidung vorgeben, kommt es ganz auf die jeweilige Perspektive des Forschers oder der Forscherin an, ob er oder sie der genossenschaftlichen Tradition oder der moderneren Einbindung in die Territorialverfassung den Vorzug geben will. Es drängt sich das Bild der sogenannten "Kippfigur" auf, die dem Betrachter je nach Blickwinkel anders erscheint.

Figur gekippt....

Nun bin ich fast am Ende angelangt, und für alles wirklich wichtige ist, wie so oft, leider keine Zeit mehr. Über der programmatischen Reformulierung der Disziplin "Landesgeschichte" habe ich ganz vergessen, daß ich ja eigentlich nur einen winzigen Denkanstoß geben, eingefahrene Denkgewohnheiten zum Thema "Regionale Identität als Forschungsproblem" ein klein wenig aufbrechen wollte. Mir ging es dezidiert um Land und Leute, denn die "Landesgeschichte hat es ganz besonders", so formulierte ein großer sächsischer Landeshistoriker einmal tiefsinnig, " mit der Einheit von Land und Leuten zu tun, weil sie diese beiden Größen als ihre tragenden Pfeiler ansieht. [...] Sie betrachtet die Menschen in ihren überschaubaren Lebensbereichen und verknüpft geschichtliches Wissen mit den Gefühlen, die den Menschen an seine Heimat binden".

Wie wenig ist es mir doch gelungen, diesem in vielerlei Hinsicht außerordentlich anschlußfähigen Ansatz gerecht zu werden! Viel zu spät wird mir schmerzlich klar, daß ich alles wesentlich differenzierter hätte darstellen müssen. Ich hätte lieber an einem sensbibel dokumentierten konkreten Beispiel, neugierig und dem für uns alle ja maßgeblichen Ideal "dichter Beschreibung" verpflichtet, zeigen sollen, wie sich im Spätmittelalter verschiedene soziale Gruppen - die Fürsten, der Adel, die Städte, die Gelehrten - in unterschiedlicher Weise auf die Zugehörigkeit zu einer Region berufen haben. Dies hätte einerseits eindrucksvoll an alten gentilen Einheiten wie Sachsen, Schwaben oder Friesland belegt werden können, andererseits aber auch an kleineren Landschaften, die auf frühmittelalterliche Gaue zurückgehen, beispielsweise die Wetterau oder das Allgäu. Und es wäre zweitens darzustellen gewesen, wie trotz aller gruppenspezifischen Inanspruchnahme regionaler Zugehörigkeit ein im 15. Jahrhundert mit prozeßhafter Dynamik zunehmendes gruppenübergreifendes regionales Selbstverständnis zu registrieren ist, das dann im Regionalpatriotismus des Humanismus münden wird. Neben dem Gentilpatriotismus, der bewußt auf die Traditionen der alten Stammesländer und gentes wie Sachsen, Schwaben oder Westfalen zurückgriff, hätte in einem letzten diachronen Schritt kurz die Entdeckung der Region als Diskursmaterie, ablesbar etwa an Landesbeschreibungen oder Gedichten über Regionen, beschrieben werden können. Doch wer zu spät kommt, den bestraft die Tagungsdisziplin!

Vielleicht darf ich ganz zum Schluß noch einen letzten Regelverstoß begehen und die meiner Ansicht nach wichtigste Wortmeldung der sich anschließenden Diskussion schon einmal vorwegnehmen. Ich meine den folgenden Einwand: Klaus, es ist ja irgendwo nachvollziehbar, daß du dich gegen die machtfixierte Perspektive der gängigen Landesgeschichte wendest und stattdessen auf Konsens und Teilhabe insistierst. Aber läufst du mit deiner sehr stark juristisch beeinflußten Sicht nicht doch Gefahr, die ja wirklich konfliktreichen mittelalterlichen Verhältnisse etwas zu statisch und etwas zu sehr als genossenschaftliche Idylle darzustellen? Ist das nicht reine Sozialromantik? Darauf würde ich am liebsten erwidern: Klar, ich sehe diese Gefahr durchaus auch, aber haben wir in diesen tristen Zeiten nicht alle ein bißchen Romantik bitter nötig?

In diesem Sinne wünsche ich uns noch einen besinnlichen ersten Advent! Vielen Dank!